Das europäische Projekt, wie die Europäische Union (EU) auch genannt wird, läuft nun seit mehreren Jahrzehnten. Angefangen hat alles als 6-Länder-Pakt, um die deutsche Kohle- und Stahlindustrie in der Nachkriegszeit zu kontrollieren. Diese Industriezweige sind nämlich die Standbeine der Rüstungsindustrie eines Landes. Nach zwei Weltkriegen, war die Angst um den Frieden zu groß und man suchte eine strukturelle Lösung. Die Lösung fruchtete und die beteiligten Staaten erkannten über die Zeit, wie gut ihnen die wirtschaftliche Zusammenarbeit tat. Dies veranlasste die Staaten dann zu weiterer Kooperation in weiteren Wirtschaftsbereichen. Ein großer Vorteil des Prozesses war, dass die kulturelle Nähe der Europäer die Zusammenarbeit entschieden erleichterte – man war dem Konsens in vielen Dingen bereits sehr nah. Nun sind wir im Jahr 2021 und die damalige Europäische Gemeinde für Kohle und Stahl ist zu einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedern herangewachsen. Die EU bildet das mit Abstand komplexeste und best entwickeltste Rechtssystem der Menschheitsgeschichte. Dazu kommt, dass durch die Supranationalität dieses politischen System eine technokratische Organisationskultur entwickelt hat, was die EU nicht nur extrem effizient, sondern auch zu einer Oase der Menschen- und Bürgerrechte macht. Die EU bringt keinem einzigen Mitgliedsstaat auch nur einen nennenswerten Nachteil, was natürlich auch aus technischer Sicht rundum nachweisbar ist. Dennoch hat sich über das vergangene Jahrzehnt ein negatives Sentiment der EU gegenüber breit gemacht. Wie kommt das und was tut man dagegen?

Populistische Dekadenz

Seit der Jahrhundertwende haben rechts-radikale Parteien in vielen europäischen Ländern stetig großen Zuwachs bekommen. Neben rassistischen Agenden haben diese Parteien eine weitere schmutzige Nische des politischen Denkens eingenommen, nämlich die der Europafeindlichkeit. Dieses Konzept beschreibt eine Ansicht, die eine Integration der europäischen Staaten ablehnt. Die Verbindung dieser Ansicht mit allgemeinrassistischen Ansichten passt aus vielerlei Gründen vortrefflich zusammen. Beginnend mit der grundlegenden Funktionsweise von rechts-radikalen Parteien, ist zu erwähnen, dass die Wählerschaft und die Parteiführung nahezu ausschließlich von Menschen geprägt sind, die in ihrer eigenen sozialen Klasse zu der untersten Schicht gehören. Dies bedeutet nicht, dass alle in solch einer Partei ungebildet sind, sondern eher, dass diese Personen in dem kleinen Kosmos ihrer sozialen Schicht praktisch das Schlusslicht darstellen. Zum Beispiel könnte jemand einen Doktortitel haben, wird aber durch charakterliche Eigenarten, fehlendes Können, mangelnder Empathie oder einem sonstigen Grund eher von den restlichen Personen dieser Schicht gemieden oder einfach nicht ernst genommen. Dasselbe gilt auch für die Mittelschicht, Unterschicht und sämtliche politisch korrekten Zwischenkategorisierungen. Diese fehlende Anerkennung führt zu einer Identitätskrise und veranlasst die Person nach Referenzpunkten zu suchen, nach denen sie sich anderen Menschen gegenüber positiv kategorisieren kann. Im Falle unserer verkannten Doktorandin könnte man sagen, dass sie sich einfach mit den unteren Schichten vergleichen und sich somit dann wohlfühlen kann, weil sie ja durch ihren Doktortitel ein Herausstellungsmerkmal besitzt. Allerdings weiß diese Person, dass dies kein Vergleich ist. Die Schlusslichter der Unterschicht haben nicht einmal die Möglichkeit dies zu tun, weil sie tatsächlich der unterste Punkt der Gesellschaft sind – diese Personen bilden den Hauptanteil solcher Parteien.

Durch diesen sozialen Missstand bleibt diesen Personen nur die Möglichkeit eine Referenz nach außen zu schaffen, was hierbei Ausländer sind. Dazu gebraucht man einen destruktiven Nationalgedanken, der die Identitätslücke füllt. Interessanterweise haben die Führungsleute der jeweiligen sozialen Schicht oftmals konstruktive Nationalgedanken, weil sie, bewusst ihrer Qualitäten, versuchen ihr Können und Wissen für das Wohl der Nation aufzuopfern. Ein destruktiver Nationalgedanke ist de facto einfach nur Rassismus, da er aus der Luft greifend eine biologische, soziale, wirtschaftliche oder sonstige Überlegenheit gegenüber anderen Ethnien oder Nationen erfindet, um das Identitätsproblem seiner Anhänger zu überdecken.

Nun hat die EU über Jahrzehnte den mitunter sichersten Lebensraum für Lebewesen unserer Größenordnung geschaffen, den es je gab; und das obwohl Europa tausende von Jahren der blutigste Ort der Welt war. Nicht nur sicher ist es hier, sondern sind die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entfaltungsmöglichkeiten auch nahezu maßlos vorhanden. Da die menschliche Natur träge ist, entfielen für viele Menschen in diesem Paradies die Anreize sich weiterzuentwickeln. Ebenso hat das politische System den Fuß vom Gas genommen – vor allem im Bildungswesen. Durch die digitale Revolution haben dann auch noch die Wirtschaftsakteure ihren Einfluss weiter ausgebaut und so weichte das Ideal der Selbstverwirklichung dem Konsum. Mit anderen Worten bewegt sich die Gesellschaft kognitiv nicht mehr konsequent weiter. Dadurch häufen sich die Menschen in den unteren Riegen ihrer sozialen Schicht und somit die potenziellen Rechtswähler. Diese, obwohl Teil davon, werden dann auf den gesellschaftlichen Verfall aufmerksam gemacht. Dadurch, dass diese Menschen auf den Verfall hindeuten, ziehen sie sich aus der Schusslinie – ähnlich wie der Brandstifter, der als erster am Brandort aufkreuzt und die Feuerwehr ruft. Somit können die Rechten ihre Argumente diversifizieren, da sie nicht nur ausländische Mitbürger im eigenen Land anvisieren können, sondern nun auch Menschen im europäischen Ausland, deren Politiker und die eigene Politiker bezüglich der EU kritisieren können. Mit Stammtischparolen maskieren sie somit blanken Rassismus und denken, dass sie intelligent klingen. Kombiniert man all diese Aspekte, so erkennt man leicht, wieso populistische Parteien in Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Polen, Tschechien, Italien, Spanien und Ungarn so stark vertreten sind.

Was tun?

Essydo Magazine wäre nicht das, was es ist, wenn es nur um Kritik ginge. Das Ziel ist schließlich Ansätze zu schaffen, die auf technischer Analyse basieren. In diesem Fall muss man sich auf der Führungsebene bewusst sein, dass dekadente Tendenzen sehr ernst zu nehmen sind. Sämtliche Königreiche und Weltreiche fielen diesem Phänomen zum Opfer und es wäre schade die EU an ihrem eigenen Erfolg scheitern zu sehen. Dekadenz wirkt man leider mit nur einem sehr unangenehmen Mittel entgegen. Das einzige Gegenmittel ist eine Bildungsreform. Jedoch keine, die lediglich einige formelle Stellschrauben anpasst, sondern eine fundamentale Offensive für die Weiterentwicklung der Bevölkerung. Die Inhalte an Schulen, Universitäten, Berufsschulen, Fachschulen, Volkshochschulen, Seminaren und in jeder erdenklichen Form der Wissensübertragung müssen deutlich mehr und deutlich schwieriger sein. Zur Verdeutlichung: die Inhalte, die es momentan im ersten Semester eines Mathematikstudiums an einer Universität zu meistern gilt, müssen mittelfristig Bestandteil des Hauptschulabschlusses sein. Mit diesem Ziel setzen sich mehrere Domino-Steine in Bewegung: die Lehrer müssen intensiver ausgebildet, was zu einem Wiederaufbau des Prestiges der Lehrer führt, was wiederum in Zukunft ambitioniertere Lehrer anzieht. Weiter führt das dazu, dass die Schüler und Studenten ihre kognitiven Fähigkeiten drastisch anpassen müssen, um auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig zu sein. Der Arbeitsmarkt profitiert dadurch, weil nun mehr junge Menschen mehr Fähigkeiten besitzen, was den nationalen Innovationsfaktor antreibt. Dadurch, dass diese Menschen nun mehr können, sinkt das Risiko des mangelnden Selbstwertgefühls und dem Langen nach externem Identitätsausgleich. Die Leute, die nicht mitmachen und dennoch dem Rassismus verfallen, hängen dann dem allgemeinen Niveau so weit hinterher, dass ihre politische Gruppierung lediglich als Randnotiz wahrgenommen werden dürfte. Die ganze Maßnahme zielt praktisch darauf ab einen Stimulus zu setzen, damit die Bevölkerung gezwungen ist sich fort zu entwickeln.

Abschließende Gedanken

Natürlich bringt eine solche Reform ein kurzfristiges Chaos mit sich. Viele Scheitern am Abitur (oder den europäischen Äquivalenten) oder am Studium. Jedoch werden sich die wenigsten eingestehen, dass die Standards mittlerweile zu niedrig sind, um noch aufrichtig von Bildung zu sprechen. Dazu kommt, dass es doch genau der Kern von Dekadenz ist, dass man sich mit dem Unwohlsein und den holprigen Wegen des Lebens verfeindet hat. Es ist doch dessen Kern, dass man jeder Anstrengung und Selbstentwicklung aus dem Weg geht. Ergo muss doch die einzige Maßnahme gegen die Lethargie sein, dass man sich aufrappelt und sich aus seinem Kokon befreit. Wie sonst, wird aus der Raupe denn der Schmetterling?